1 BGE 135 I 257 - Bundesgerichtsentscheid vom 16.04.2009

Entscheid des Bundesgerichts: 135 I 257 vom 16.04.2009

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Sachverhalt des Entscheids 135 I 257

Der Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. April 2009, BGE 135 I 257 S., entscheidet in einem Verfahren gegen die X. GmbH und Y. wegen Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, der Übertretung des Bundesgesetzes über den unlauteren Wettbewerb und der Widerhandlung gegen die Preisbekanntgabeverordnung. Das Gericht hat die Beschwerde der Gesellschaft und Y. abgelehnt und verlangt, dass die Kontensperren bei drei Finanzinstituten aufgehoben werden. Die Gesellschaft und Y. haben dann eine Beschwerde beim Bundesgericht eingebracht. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil festgestellt, dass die Kontensperren nicht rechtlich zulässig sind, da sie den Fristenstillstand nach Art. 46 Abs. 1 BGG verletzen und keine "anders vorsorglichen Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG darstellen. Die Kontensperren waren eine Massnahme der Strafuntersuchung, die unter den Umständen des Verfahrens durchgeführt wurde, um Verdachts eines gewerbsmässigen Betrugs zu beurteilen. Sie waren jedoch nicht im Einklang mit Art. 46 Abs. 2 BGG angesichts der altrechtlichen Praxis und der Rechtsprechung zum Fristenstillstand in Verfahren betreffend aufschiebende Wirkung und anderen vorsorglichen Massnahmen. Der Bundesgerichtshof hat auch festgestellt, dass die Gesellschaft und Y. ihre Beschwerde angesichts des Fristenstillstands während der "Gerichtsferien" (Art. 46 Abs. 1 BGG) rechtzeitig erhoben haben müssen. Die altrechtliche Praxis besagt, dass solche Fristen nur für Verfahren betreffend aufschiebende Wirkung und andere vorsorgliche Massnahmen gelten. Die Kontensperren waren daher nicht rechtlich zulässig, da sie den Fristenstillstand verletzten. Der Bundesgerichtshof hat auch festgestellt, dass die Gesellschaft und Y. ihre Beschwerde angesichts des Fristenstillstands während der "Gerichtsferien" (Art. 46 Abs. 1 BGG) rechtzeitig erhoben haben müssen. Die Kontensperren waren daher nicht rechtlich zulässig, da sie den Fristenstillstand verletzten und keine "anders vorsorglichen Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG darstellen.

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Details zum Bundesgerichtsentscheid von 16.04.2009

Dossiernummer:135 I 257 - neu: 1B_252/2008
Datum:16.04.2009
Schlagwörter (i):Massnahme; Massnahmen; Sinne; Sachen; Urteil; Kontensperren; Beschlagnahme; Fristenstillstand; Massnahmen; Bundesgericht; Gerichtsferien; Verfahren; Beschlagnahmen; Recht; Zwangsmassnahmen; Vermögenswerte; Prozess; Praxis; Einziehung; Bundesrechts; Gallen; Zwischenentscheide; Untersuchungsamt; Gesellschaft; Bundesrechtspflege; Strafsachen; Auszug; Kantons

Rechtsnormen:

BGE: 133 I 270, 126 I 97, 103 IA 367, 134 III 667 , 134 II 201, 124 IV 313, 120 IV 365

Artikel: Art. 46 BGG , Art. 34 Abs. 2 OG, Art. 4 BGG , Art. 46 BGG , Art. 17 ZGB , Art. 559 ZGB , Art. 318 ZGB , Art. 278 SchKG , Art. 31 BV

Kommentar:
-, Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, Art. 46 BGG, 2001

Entscheid des Bundesgerichts

Urteilskopf
135 I 257

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. GmbH und Y. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in Strafsachen)
1B_252/2008 vom 16. April 2009

Regeste
Art. 46 Abs. 2 BGG (sog. "Gerichtsferien"; Ausnahme vom Fristenstillstand).
Strafprozessuale Zwischenentscheide (insbesondere Beschlagnahmen und Kontensperren) sind als "andere vorsorgliche Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zu behandeln (E. 1.1-1.5). Ausnahmsweises Eintreten auf die Beschwerde (nach Treu und Glauben bzw. angesichts der altrechtlichen OG-Praxis) im vorliegenden Fall (E. 1.6).

Sachverhalt ab Seite 258
BGE 135 I 257 S. 258
A. Das Untersuchungsamt St. Gallen führt eine Strafuntersuchung gegen Y. und die X. GmbH wegen Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, der Übertretung des Bundesgesetzes über den unlauteren Wettbewerb und der Widerhandlung gegen die Preisbekanntgabeverordnung. Am 8. Mai 2007 verfügte es Kontensperren, und am 14. Mai 2007 beschlagnahmte es in Geschäftsräumlichkeiten der genannten Gesellschaft unter anderem Geschäftsunterlagen und Vermögenswerte, insbesondere Teppiche.
B. Mit Schreiben vom 5. Mai 2008 beantragten die Gesellschaft und Y. beim Untersuchungsamt die Herausgabe der (unterdessen noch) sichergestellten Gegenstände und Vermögenswerte. Mit Schreiben vom 6. Mai 2008 hielt das Untersuchungsamt an der Aufrechterhaltung der Beschlagnahmen und Kontensperren fest. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 9. Juli 2008 ab.
C. Gegen den Entscheid der Anklagekammer vom 9. Juli 2008 gelangten die Gesellschaft und Y. mit Beschwerde vom 15. September 2008 an das Bundesgericht. Sie beantragen zur Hauptsache die Aufhebung der Kontensperren bei drei Finanzinstituten sowie die Herausgabe der beschlagnahmten Teppiche und Geschäftsunterlagen. (...)
(Auszug)

Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. Zu prüfen ist zunächst, ob die Beschwerde angesichts des Fristenstillstands während den sogenannten "Gerichtsferien" (Art. 46 Abs. 1 BGG) rechtzeitig erhoben wurde.
BGE 135 I 257 S. 259
1.1 Nach alter Bundesrechtspflege galten für "Strafsachen" die Gerichtsferien nicht (Art. 34 Abs. 2 OG). Unter die Strafsachen im Sinne des OG fielen jedoch nur Verfahren, mit denen das Bundesgericht als eidgenössische Strafgerichtsbehörde befasst war, nicht aber Verfahren der Staats- oder Verwaltungsrechtspflege. Die Gerichtsferien waren daher nach altem Recht im (staatsrechtlichen) Beschwerdeverfahren gegen strafprozessuale Zwischenentscheide, insbesondere Zwangsmassnahmen, zu berücksichtigen (BGE 103 Ia 367 f.; Urteil 1P.534/2003 vom 6. Oktober 2003 E. 1). Der seit 1. Januar 2007 anwendbare Art. 46 BGG regelt den Fristenstillstand im Rahmen der sogenannten Gerichtsferien in Absatz 1. Als Ausnahmen vom Fristenstillstand nennt Absatz 2 "Verfahren betreffend aufschiebende Wirkung und andere vorsorgliche Massnahmen" sowie die Wechselbetreibung und die internationale Rechtshilfe in Strafsachen.
1.2 Der bundesrätlichen Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege lässt sich nicht entnehmen, was unter "anderen vorsorglichen Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zu verstehen ist. Gemäss Botschaft sei die altrechtlich (in Art. 34 Abs. 2 OG) noch vorgesehene Ausnahme vom Fristenstillstand für "Strafsachen" nach Inkrafttreten des BGG zwar "nicht mehr gerechtfertigt, da das Bundesgericht in diesem Bereich nur noch Beschwerdeinstanz sein" werde (BBl 2001 4297 Ziff. 4.1.2.5; s. auch AMSTUTZ/ARNOLD, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 10 zu Art. 46 BGG). Der Hinweis auf die altrechtliche Ausnahme für "Strafsachen" bezieht sich jedoch, wie bereits dargelegt, nicht auf strafprozessuale Zwangsmassnahmenentscheide. Ausserdem wäre nicht einzusehen, weshalb bei vorsorglichen Massnahmen in Zivil- und Verwaltungsverfahren (wo das Bundesgericht ebenfalls als Beschwerdeinstanz tätig wird) die fragliche Ausnahme von den Gerichtsferien gelten sollte (vgl. dazu nachfolgend E. 1.4), im Strafprozess hingegen nicht. Dies umso weniger, als schon die altrechtliche materielle Praxis Beschlagnahmenentscheide als "provisorische prozessuale Massnahmen" bezeichnete (vgl. BGE 126 I 97 E. 1c S. 102; s. dazu unten E. 1.5).
1.3 In BGE 133 I 270 E. 1.2.1 S. 273 f. liess das Bundesgericht ausdrücklich offen, ob es sich bei strafprozessualen Haftprüfungen um "Verfahren betreffend andere vorsorgliche Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG handelt. Die Frage konnte offenbleiben, da in Haftfällen der Fristenstillstand bereits wegen des besonderen
BGE 135 I 257 S. 260
Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht greift. Hier ist zu prüfen, ob Entscheide über strafprozessuale Beschlagnahmungen bzw. Kontensperren als vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zu behandeln sind.
1.4 Im Zivilprozessrecht fallen unter die vorsorglichen Massnahmen im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zum Beispiel die Schuldneranweisung gemäss den Bestimmungen zum Schutz der ehelichen Gemeinschaft (Art. 177 ZGB; BGE 134 III 667), die Einsprache gegen die Ausstellung einer Erbenbescheinigung (Art. 559 Abs. 1 ZGB; Urteil 5A_162/2007 vom 16. Juli 2007 E. 5.2) oder das Inventar über das Kindesvermögen (Art. 318 Abs. 2 ZGB; Urteil 5A_169/2007 vom 21. Juni 2007 E. 3). Im Verwaltungsverfahrensrecht gehören etwa provisorische Lärmschutzmassnahmen dazu (Urteil 1C_283/2007 vom 20. Februar 2008 E. 2.3 und 2.4), bei den SchKG-Verfahren der Arrest (inklusive Weiterziehung des Einspracheentscheides nach Art. 278 Abs. 3 SchKG; Urteil 5A_218/2007 vom 7. August 2007 E. 3.2, in: Pra 2007 Nr. 138 S. 944 ff.). Ausländerrechtliche Zwangsmassnahmenentscheide, etwa betreffend Durchsetzungshaft, fallen hingegen weder unter die Rechtsprechung zu strafprozessualen vorläufigen Zwangsmassnahmen (im Sinne von BGE 133 I 270 E. 1.2.2 S. 274) noch unter die "anderen vorsorglichen Massnahmen" im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG (BGE 134 II 201 E. 1.2 S. 203 f.).
1.5 Die hier streitige Einziehungsbeschlagnahme (Art. 141 Abs. 1 lit. b des sankt-gallischen Strafprozessgesetzes vom 1. Juli 1999 [StP/SG; sGS 962.1] stellt - im Gegensatz zur endgültigen materiellrechtlichen Einziehung - eine von Bundesrechts wegen vorgesehene provisorische (konservatorische) strafprozessuale Massnahme dar zur vorläufigen Sicherstellung von allenfalls der Einziehung unterliegenden Vermögenswerten oder zur Durchsetzung einer möglichen staatlichen Ersatzforderung. Die Beschlagnahme greift dem Einziehungsentscheid nicht vor; und auch die zivilrechtlichen Eigentumsverhältnisse an den Vermögenswerten bleiben durch die strafprozessuale Beschlagnahme unberührt (BGE 126 I 97 E. 1c S. 102; BGE 124 IV 313 E. 4 S. 316; BGE 120 IV 365 E. 1c S. 366 f.). Bei der Beweismittelbeschlagnahme (Art. 141 Abs. 1 lit. a StP/SG) handelt es sich um eine provisorische strafprozessuale Massnahme zur Beweissicherung. Der Sinn und Zweck von Art. 46 Abs. 2 BGG erfasst auch diese vorläufigen prozessualen Zwangsmassnahmen. Zwar ist hier kein (zusätzliches) besonderes verfassungsmässiges Beschleunigungsgebot wie in strafprozessualen Haftsachen zu
BGE 135 I 257 S. 261
berücksichtigen (vgl. Art. 31 Abs. 3 und 4 BV; BGE 133 I 270 E. 1.2.1 S. 273 f.). Auch Beschwerdefälle betreffend Beschlagnahmen sind jedoch zur Wahrung der Verhältnismässigkeit und im Interesse der Verfahrensbeschleunigung möglichst zügig zu entscheiden. Im Übrigen rechtfertigt - im Vergleich mit zivil- und verwaltungsprozessualen vorsorglichen Massnahmen (bei denen Art. 46 Abs. 2 BGG nach der dargelegten Rechtsprechung zur Anwendung kommt) - auch die Bedeutung und Eingriffsintensität strafprozessualer Beschlagnahmungen und Kontensperren eine analoge verfahrensrechtliche Praxis.
1.6 Auch wenn strafprozessuale Zwischenentscheide (wie Beschlagnahmen und Kontensperren) somit als andere vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 46 Abs. 2 BGG zu behandeln sind, muss im vorliegenden Fall nach Treu und Glauben noch auf die Beschwerde eingetreten werden (BGE 133 I 270 E. 1.2.3 S. 274 f. mit Hinweisen). Die neue Rechtslage war aufgrund von BGE 133 I 270 E. 1.2.1 S. 273 f. (und angesichts der altrechtlichen Praxis bzw. der erfolgten Revision der Bundesrechtspflege) jedenfalls noch nicht ausreichend klar.

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